Winterhilfe der Deutschen Marine für Russland 1991/1992
Klaus-Peter Hirtz
Die angespannte Versorgungslage der russischen Bevölkerung in den Jahren 1991 und 1992 hatte in Deutschland eine breite Welle der Hilfsbereitschaft in Form von Geld-, Sach-, Bekleidungs- und Verpflegungsspenden aller Art ausgelöst. Die Hilfsgüter wurden von Einheiten der Deutschen Marine in
36 Reisen vorrangig nach Leningrad und Klaipeda transportiert. Allein an Lebenmitteln umfassten die Transportleistungen über 72.000 t.
Am 3. Oktober 1990 erlangte Deutschland die Einheit. Dies war neben vielen "Zwei-plus-Vier-Gesprächen" durch das Treffen des sowjetischen Generalsekretärs Gorbatschow und Bundeskanzler Kohl im Juli des gleichen Jahres im Kaukasus möglich geworden. Deutschland sollte Gelegenheit erhalten, sich bald erkenntlich zu zeigen. Früh im Herbst verstärkten sich die Signale über zunehmende \/ersorgungs-schwierigkeiten in der Sowjetunion. Über Hilfs- und Spendenaufrufe trugen zunächst karitative Organisationen das Wissen um die Nöte der Sowjetbürger in unsere Bevölkerung. Eine breite Welle der Hilfsbereitschaft in Form von Geld-, Sach-, Bekleidungs- und Verpflegungsspenden wurde ausgelöst. Die Frage: "Wie gelangt diese Spendenflut an die Bedürftigen in der Sowjetunion?" wurde schnell zum zentralen Problem. Hier war die öffentliche Hand gefordert. Nun musste sehr zügig gehandelt werden.
Die Bundeswehr hatte bereits ihre Möglichkeiten zur Abgabe von Lebensmitteln aus der Einsatzbevorratung geprüft. Durch die zu Beginn des Oktobers erreichte Einheit boten sich auch Bestände der ehemaligen NVA für eine Hilfe an.
Eine Herabsetzung des Verpflegungsvorrats wurde vor dem Hintergrund der so deutlich verbesserten Sicherheitslage Deutschlands - und der Mitgliedstaaten des Atlantischen Bündnisses - entschieden. Das Ergebnis waren 32.000t Lebensmittel, die im Rahmen dieser Hilfsaktion angeboten werden konnten. Die Not in der Sowjetunion wuchs und die Transportfrage rückte nicht erst jetzt sehr deutlich in den Mittelpunkt der Aktion. Die Entwicklung des Transportplanes lag nicht nur in Händen der Bundeswehr, sondern war natürlich eng mit der sowjetischen Seite abzustimmen. Dabei war, wie immer bei Hilfsaktionen, auch auf die Gefühle der Nehmenden Rücksicht zu nehmen. Noch im Dezember begann der Transport in drei größeren Gruppierungen.
lm Norden Deutschlands sollten 12.000 t durch Marineschiffe aus den Häfen Wilhelmshaven und Flensburg nach Leningrad und Tallin und 2.000 t durch ein sowjetisches l-landelsschiff verbracht werden. 14.000 t waren in den Donauhäfen Regensburg und Kehlheim zur Verladung auf sowjetische Flussschiffe und 4.000 t in den Seehäfen Rostock, Stralsund und Greifswald bereitzustellen. Damit waren die Landtransportkapazitäten der Bundeswehr für die nächsten Wochen bis aufs Außerste angespannt.
Im Folgenden beschränkt sich der Autor auf die Schilderung des ersten einer Reihe von Transporten mit Schiffen der Marine, den er als Kommandeur des 1. Minensuchgeschwaders mit dem zu diesem Verband gehörenden Minentransporter STEIGERWALD durchführte. Nach dern ersten offiziellen Besuch eines deutschen Marineverbandes unter Führung des damaligen Kommandeurs der Zerstörerflottille und späteren lnspekteurs der Marine, Flottillenadmiral Boehmer, im Oktober 19B9 sollte dies der zweite Besuch einer Einheit der Deutschen Flotte in einem sowjetischen Hafen werden - allerdings aus ganz anderem Anlass und unter anderen äußeren Bedingungen. Die Unternehmung war nicht deshalb eine besondere, weil die Anforderungen an militärische Fertigkeiten besondere waren, sondern weil ein sehr ungewöhnlicher, der Natur nach gänzlich unmilitärischer Auftrag unter für uns sehr ungewöhnlichen Witterungs-bedingungen bei und mit dem ehemaligen Gegner zu erfüllen war.
Die Beladung der STEIGERWALD mit ca. 1.300 t Lebensmitteln konnte bis zum Ende der zweiten Januarwoche in Flensburg abgeschlossen werden. Parallel liefen die generellen Vorbereitungen einer solchen Reise. Diplomatische Anmeldungen, nautische Vorbereitungen, einschließlich der Hafeninformationen, Wetterprognosen, Führungsfragen, Fernemeldeanbindung und Bevorratung bestimmten diese emsigen Tage vor dem Auslaufen. Besondere Aufmerksamkeit verdienten aber die aktuelle und die prognostizierte Eislage im Finnischen Meebusen, die Vorbereitung und Einstimmung der Besatzung auf einen Besuch beim ehemaligen Gegner aus der Zeit des Kalten Krieges und die Modalitäten des Hilfsgüterumschlages vor Ort. Die Einschiffung eines russischsprechenden Stabsoffiziers der ehemaligen Nationalen Volksmarine sollte uns bei der Überwindung von Sprachproblemen helfen. Noch sahen wir keine; sie sollten aber kommen.
Drei Tage für einen gut 800-sm-Marsch sollten reichen, um wie angemeldet am Montag, 13. Januar 1991 um 10:00 Uhr in Leningrad einzulaufen. Den internationalen Gepflogenheiten entsprechend läuft die Marine nahezu ausnahmslos um 10:00 Uhr in ausländische Häfen ein.
Bei herrlichem Winterwetter verbrachten wir das Wochenende zwischen Flensburg und Leningrad auf See. Die so genannte Wochenenderoutine an Bord gestattete weitere Vorbereitung der Besatzung auf diesen Hafen, soweit mit Blick auf sehr praktische Fragen der aktuelle Stand der Dinge bis zum Auslaufen in Erfahrung zu bringen gewesen war. Zu Letzterem gehörten die allgemeine Sicherheitslage im Hafen, beim Landgang, einzeln oder in Gruppen, in Uniform oder Zivil, Geldumtausch, private Kontakte u.a.. Dazu sollten wir Näheres erst in Leningrad erfahren.
Am Sonntagnachmittag passierte das Schiff die Insel Gogland im Finnischen Meerbusen, ca. 100 sm von Leningrad entfernt. Kurz darauf liefen wir in zunächst noch dünne Eisfelder ein, die allerdings an Stärke stetig zunahmen. Die uns ungewohnten Erschütterungen bei Eisfahrt, Probleme der Motorenkühlung durch Eisschlamm in den Ansaugstutzen, aber auch die Erwartung, dass auf Grund der Westwindlage der vergangenen Tage die Eisdicke nach Osten Weiter zunehmen würde, veranlassten zur Umkehr. Die Anforderung eines Eisbrechers war auf normalem internationalem Seesprechfunkwege (VHF) wegen der Entfernung zu den Landstationen nicht möglich. Über das Flottenkommando in Glücksburg, im weiteren Wege das noch junge Marinekommando Rostock und von dort über noch aus NVA-Zeit bestehende militärische Telefonverbindungen zum Hauptquartier der sowjetisch-baltischen Flotte wurde die Eisbrecheranforderung geleitet. Binnen etwa drei Stunden erhielten wir in See die Bestätigung des Eintreffens eines Eisbrechers gegen Mitternacht am gewünschten Ort östlich Gogland. Der Eisbrecher erschien nahezu pünktlich, der Marsch konnte fortgesetzt werden. Wir begannen, uns an die Erschütterungen des Schiffes bei Eisfahrt zu gewöhnen. lm Schiffstechnikbereich herrschte jedoch höchste Auf-merksamkeit.
Beim ersten Tageslicht erreichten wir Kronstadt, die Leningrad auf einer Insel um etwa 10 sm vorgelagerte Marinebasis. Beim Blick durch das Doppelglas boten sich eine Reihe offensichtlich nicht einsatzfähiger, möglicherweise kaum mehr betriebsbereiter Minensuch-, Patrouillen- und U-Boote. Die gesamte Hafenanlage machte einen baufälligen Eindruck.
Die Lotsenübernahme im Eis erfolgte nach sonst nicht gewohnten Regeln. Das Lotsenfahrzeug, rechtwinklig zur Fahrwasserrichtung im Eis steckend, setzte den Lotsen über das Heck auf unsere mittschiffs ausgebrachte Lotsenleiter ab und zog dann wieder einige Meter voraus.
Der russischsprachige ehemalige NVA-Offizier begann sich nun schon sehr nutzbringend auszuwirken, obwohl der Lotse auch einige Worte Englisch sprach. Kurz darauf erreichten wir den Hafen . Es fiel auf, dass das Gelände mit Umschlaggütern sehr angefüllt war, wenig Schiffe im Hafen lagen, auf noch weniger Schiffen Be- oder Entladearbeiten erfolgten, der ganze Hafen die sonst übliche Betriebsamkeit vermissen ließ.
Uns wurde ein guter stadtnaher Liegeplatz im Handelshafen zugewiesen. Die sowjetische Seite war mit Angehörigen der Marine und zahlreicher Behörden zur Begrüßung erschienen. Die Abgrenzung der Zuständigkeiten zwischen den drei Marineoffizieren, vom Kapitän zur See bis zum Kapitänleutnant, war noch sehr eingängig, die der Vertreter von Stadt, Hafenbehörde, Sicherheitseinrichtung, HandelsgeselIschaft - letztere sollte die Hilfsgüter in Empfang nehmen und im Sinne der Vereinbarung zwischen Deutschland und der Sowjetunion verteilen - sind uns trotz Dolmetscher und vieler Nachfragen bis zum Auslaufen nur bedingt klar geworden. Insbesondere zur Klärung der Verteilung der Hilfsgüter war uns jedoch daran gelegen.
Die Entladung begann nicht am ersten Tag. Unklar blieb zunächst auch, ob direkt auf LKW verladen wurde oder zunächst in angrenzenden Schuppen zwischenzulagern sei.
Am Nachmittag erhielten wir Besuch von einem Vor-Ort-Vertreter des deutschen Caritas-Verbandes, der uns auf die Gefahr der nicht ordnungsgemäßen Weitergabe der Hilfsgüter an Bedürftige aufmerksam machte. Rückfragen per Funk nach Deutschland, ob unter solchem Eindruck anders zu verfahren sei, wurden verneint.
Die Entladung begann am zweiten l-lafenliegetag; zögernd und stets mit der Überwindung von Zuständigkeitsgrenzen beim sowjetischen Personal. Die Kranführer wussten nichts über die Absetzorte im Schuppen, das Umschlagpersonal nichts über die Arbeitszeiten von Kranführern, d.h. wann erscheint überhaupt jemand und werden ein oder zwei Kräne eingesetzt. Auf die jeweiligen Gegebenheiten musste ja die Zuarbeit der Besatzung im Schiff - Bereitstellung der Paletten an Luken - eingestellt werden. Kurzum: Es musste viel nachgesteuert und immer wieder Verständnis für Wartezeiten aufgebracht werden. Für die Besatzungs-angehörigen der STEIGERWALD war das ein exemplarischer Einblick in das im Westen immer als typisch für den Kommunismus herausgestellte System der engen und hierarchischen Kompetenzgliederung. Mit einer Reihe weiterer jeweils nicht sonderlich zügig zu lösender Fragen zog sich die Entladung des Schiffes über nahezu fünf Tage hin.
Wir alle nahmen das aber mehr als gelassen, verlängerte sich dadurch doch die Zeit, in der Leningrad kennenzulernen war. Sowohl die Marinenebasis als auch insbesondere die örtliche Seemannsbetreuungseinrichtung waren sehr bemüht, uns die Sehenswürdigkeiten der Stadt näher zu bringen. Leningrad, früher und heute wieder St. Petersburg, war für etwa zwei Jahrhunderte Russlands Hauptstadt und Fenster nach Europa. Einem kleineren Kreis - quer durch alle Dienstgrade - waren auf Einladung der sowjetischen Marine Besuch eines Balletts im Kirov-Theater und auf dem Kreuzer AURORA vergönnt. Die AURORA hatte zu jener Zeit im Januar 1991 noch einen uneingeschränkt hohen Traditionswert nicht nur für die sowjetische Marine. Wir wurden auf besonders zeremonielle Weise auf diesem Schiff, aus dessen Geschützen am 25. Oktober 1917 das Signal zum Sturm auf das Winterpalais gefeuert wurde, empfangen. Das Besondere dieses Besuchs blieb, insbesondere beim Tausch der Geschenke, keinem der deutschen Marinesoldaten verschlossen.
Dem Kommandanten der STEIGERWALD waren von russischen Nachbarn in Flensburg mehrere Taschen mit Lebensmitteln und anderen sehr nützlichen Dingen für ihre Angehörige in Leningrad mitgegeben worden. Der sowjetische Verbindungsoffizier vermochte uns, d.h. den Kommandanten, den ehemaligen NVA-Offizier und mich, mit einem Wolga-Dienstwagen seines Vorgesetzten abzuholen und zu besagter Adresse in einen der Außenbezirke, einen typischen so genannten Rayon mit mehrstöckigen, sehr langgestreckten Wohnblocks, zu fahren. Die Freude der Besuchten war riesig, wir wurden erwartet und saßen binnen 20 Minuten zu sechst um einen winzigen Küchentisch bei Hühnchen mit Reis und natürlich Wodka. Dabei kam es dank unseres dolmetschenden ehemaligen NVA-Offiziers zu einem recht persönlichen Gedankenaustausch, auch mit dem russischen Verbindungsoffizier, der merklich auftaute. Einen Blick auch in die Wohnbedingungen einer fünfköpfigen Familie aus drei Generationen in zwei Zimmern auf etwa 40 m2 zu werfen, hat einen besonderen Eindruck hinterlassen.
Nicht nur das schleppende Entladen des Schiffes, sondern auch die Eislage hatte Schiff und Besatzung sechs Hafentage beschert. Zum Auslaufen hatten wir etwas stärkeren Südostwind abgewartet, der das durch vorherige Westwinde und sehr niedrige Temperaturen stark aufgepackte Eis im inneren Finnischen Meerbusen nun etwas lockerte; gleichwohl war uns klar, dass es kein leichter Marsch werden würde, zumal ein Eisbrecher am Auslauftag morgens nicht zur Verfügung stand.
Lotse, Schifffahrtsbehörde und die Marinebasis empfahlen jedoch das Auslaufen. Wir sollten einem mit besonderen Eisbrecherfähigkeiten ausgestatteten sowjetischen Handelsschiff im Kielwasser folgen. Auslaufend hin zur Lotsenstation bei der Marinebasis Kronstadt konnte die STEIGERWALD im aufgebrochenen Fahrwasser dem Handelsschiff gut folgen. Wie schon auf der Anreise war das Schiffstechnikpersonal in höchster Bereitschaft und hatte mit dem Entfernen von Eisschlamm aus den Seekühl-wasseransaugstutzen für Antriebs- und Hilfsdieselmotoren alle Hände voll zu tun. Aber es nützte nichts, die Leistung der Maschinen musste zurückgenommen werden, um Überhitzungen zu vermeiden. Die Fahrt des voraus-fahrenden Handelsschiffes konnte nicht gehalten werden; dort war man auch nicht bereit, wegen uns die Fahrt zu verlangsamen. Bald saßen wir im Eis fest. Ein weiterer Versuch, einem uns nach etwa zwei Stunden passierenden Handelsschiff zu folgen, führte nach wenigen Minuten zu demselben Ergebnis. Ein über die internationale Funksprechverbindung (VHF) angeforderter Eisbrecher wurde für etwa Mitternacht in Aussicht gestellt.
Navigatorisch war die Situation unproblematisch, denn erstens gab es in der Nähe keine Untiefen und zweitens haben weder Strömung noch der im weiteren Verlauf auf 6 bis 8 Windstärken zunehmende Wind - und die damit gegebene Möglichkeit mit dem Eis zu vertreiben - die Position des Schiffes nennenswert verändert.
Der Eisbrecher kam gegen 1:00 Uhr nachts. Über den Radarkontakt hinaus sahen wir zunächst mehrere starke Scheinwerfer durch Dunkelheit und Schneetreiben dringen. Beim Versuch, das Eis am Heck unseres Schiffes aufzubrechen, kam es zu einer sehr heftigen Berührung beider Fahrzeuge. Für uns war es später deutlich in die Kategorie Havarie einzustufen, für den Schlepperkapitän ein "etwas stürmischer Bruderkuss", für den er über VHF um Entschuldigung und Verständnis bat. Nun wurde die unserem Schiff windabgewandte Seite aufgebrochen, in diesen Bereich trieb die STEIGERWALD durch den starken Wind dann hinein und unter sofortigem, nahezu vollem Einsatz der Antriebsmaschinen nahm das Schiff dem Eisbrecher sehr dicht folgend Fahrt auf. Über die Sprech-funkverbindung war dieses alles gut abzusprechen. Unter weiterhin hoher Anspannung auf der Brücke und im Maschinenraum verlief die Eisfahrt dann ohne weitere Zwischenfälle. Am Vormittag erreichten wir offenes Wasser und liefen zwei Tage später mit wertvollen nautischen, seemännischen und sehr persönlichen Erfahrungen in Flensburg ein. Jeder Besatzungsangehörige war dankbar, dabei gewesen zu sein, einen tiefen Blick in das Land des ehemaligen Gegners aus dem Kalten Krieg getan und mitgeholfen zu haben, in einer Notsituation für Linderung zu sorgen. Schmerzhaft für uns zu sehen war, dass bis zum Auslaufen kein Hilfspaket den Hafen verlassen hatte.
Dieses war die erste Reise einer Reihe von 36 im Zeitraum Januar bis Juni 1991 mit Minen- und Munitionstransportern sowie kleinen Versorgungsschiffen (Darss-Klasse) der ehemaligen NVA. 12.000 t Lebensmittel wurden auf dem Seeweg in die sowjetischen Häfen Leningrad und Klaipeda gebracht.
In den folgenden Jahren bis heute, allerdings mit deutlich abnehmender lntensität, haben Einheiten der Marine über Lebensmittel hinaus auch medizinisches Gerät, Bekleidung und andere Hilfsgüter nicht nur in sowjetischen - dann russischen -, sondern auch in baltischen, rumänischen und ukrainischen Häfen entladen.